Dez 24. '1912.00 Uhr

8. Stilgebot für guten Text: 
Meide die Hauptwörterei.

Die erfolgreiche Diät gegen Satzverfettung

Von Ralf Isau

Die Hauptwörterei ist eine schwer einzudämmende Volkskrankheit. Verursacher des Leidens ist der das Namenwort, auch Substantiv, Substantivum, Hauptwort oder Nomen genannt. Vor allem, wenn ich behördliche Texte lese und Politikern zuhöre, beschleicht mich ein Verdacht: Irgendwo muss es eine geheime Behörde geben. Ich nenne sie das »Hauptwörteramt«. Diese Dienststelle arbeitet nach dem Prinzip der Verkehrssünderkartei, nur umgekehrt. Sie vergibt Bonuspunkte für jedes benutzte Substantiv. Wie sonst lässt sich die im deutschen Sprachraum grassierende Satzverfettung erklären? Welchen vernünftigen Grund gäbe es, Sätze sowohl im Schriftlichen wie im Gesprochenen mit Hauptwörtern bis zur Unverdaulichkeit zu spicken?

In seiner Stilfibel spricht Ludwig Reiners von der »Hauptwörter-Seuche« und meint dasselbe. Wer daran erkrankt, benutzt Substantive geradezu zwanghaft. Er hält sogar an ihnen fest, wenn Tätigkeitswörter (Verben) und Eigenschaftswörter (Adjektive) den Satz verschlanken würden. Solche unnötigen Hauptwörter sind wie »Hüftgold« bei einem Marathonläufer: Je mehr Speckringe man mit sich herumschleppt, desto schwerer kommt man voran. Und je mehr Ballast man in einen Satz packt, desto schwerer wird der Leser oder Zuhörer ihn verstehen.

Achten Sie einmal bewusst auf die Zahl der Substantive, die Sie und andere benutzen. Viele bemerken ihr sprachliches »Übergewicht« kaum, so tief ist die Hauptwörterei im Sprachgebrauch verwurzelt. Jede Nachrichtensendung liefert dafür schöne Beispiele, sobald Politiker ihren Mund aufmachen. Sie führen die Stilregel Nr. 2 – »Schreibe, wie du sprichst.« – ad absurdum, indem sie sprechen, wie sie schreiben.

Die Hauptwörter-Seuche befällt nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich. Vor allem Praktiker, die viel mündlich kommunizieren, scheinen ihr besser zu widerstehen. Welcher Maurermeister würde zu seinem Azubi sagen: »Ich bitte dich um die Zurverfügungstellung eines Senklots für die Ausrichtung des Mauerwerks in der Vertikalen.« Er sagt eher: »Reich mir mal das Lot, sonst wird die Mauer krumm.« Wie dynamisch und erfrischend verständlich diese Anweisung ist!

Zur Risikogruppe für die Volksseuche der Hauptwörterei gehören eher Menschen, deren Bildung hauptsächlich aus Büchern stammt. Besonders anfällig dafür sind Personen, die im Alltag viel mit schriftlich formulierten Vorschriften und Gesetzen arbeiten: Beamte, Behördenvertreter, Rechtsanwälte. Auch viele Politiker sind mit Haut und Haaren der Hauptwörterei verfallen. Lauschen Sie einmal bewusst den Interviews dieser Herren und Damen, und Sie werden mich verstehen. So sagte etwa der FDP-Politiker, Jurist und frühere Aufsichtsratvorsitzende des Suhrkamp-Verlages Gerhart Baum 2020 in der Fernsehsendung ZDF-Zeit:

Die Waffe wurde nicht zum Gegenstand von Ermittlungen.

Sowohl das Hauptwort »Ermittlungen« als auch die unschöne Passivkonstruktion (»wurde …«) sind schlechter Stil. Stattdessen hätte Baum auch sagen können:

Die Polizei hat nie wegen der Waffe ermittelt.

Vielen Leuten ist die Hauptwörterei so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie selbst einfachste Sachverhalte nur mit überflüssigen Substantiven erklären können. Ursprünglich ist sie in den Ställen der Amtsschimmel entstanden. Die Beamten an den Höfen von Königen und Fürsten standardisierten die Schriftsprache, um Gesetze, Erlasse und Verträge unmissverständlich und rechtsverbindlich zu formulieren. Bei solchen, die des Schreibens und Lesens mächtig waren, prägte dieser Kanzleistil dann im Lauf der Zeit auch die Alltagssprache.

Kanzleideutsch

Bis heute sind Amtsstuben das ideale Milieu für die Hauptwörterei. Fast jedem hat der altertümelnde, verschnörkelte Kanzleistil schon einmal die Gehirnwindungen verknotet: Man liest einen mit unnötigen Hauptwörtern überladenen Satz drei Mal und versteht ihn trotzdem nicht (richtig). Der häufige Konsum solcher Sätze ist ansteckend, was bei einer Seuche kaum überrascht. Der Liedermacher Reinhard Mey hat der Hauptwörterei und dem Kanzleideutsch ironisch ein Denkmal gesetzt, als er sang:

Schicken Sie uns sofort einen Antrag auf Erteilung eines Antragformulars zur Bestätigung der Nichtigkeit des Durchschriftexemplars, dessen Gültigkeitsvermerk von der Bezugsbehörde stammt, zum Behuf der Vorlage beim zuständ’gen Erteilungsamt.

Im Song mag das lustig klingen. Aber verstehen Sie auch diesen Bandwurmsatz aus 29 Wörtern? Davon ist mehr als jedes dritte ein Substantiv. Solchen Amtsdeutsch-Monstern sollten Sie unbedingt die Zähne ziehen. Versuchen wir das einmal. Wie klänge es, wenn wir einige komplizierte Begriffe vereinfachen? Vielleicht so:

Schicken Sie uns sofort den Antrag für ein Antragsformular, um die von der zuteilenden Behörde beglaubigte Durchschrift für nichtig erklären zu lassen und sie beim erteilenden Amt vorzulegen.

Hmm. Ist vielleicht ein bisschen verständlicher. Aus den vormals elf Hauptwörtern des Satzes haben wir fünf gemacht. Seine Länge ist indes nur um ein Wort geschrumpft. Fragt sich: Wenn der Empfänger meines Schreibens schon weiß, worum es geht, muss ich ihm dann die amtlichen Abläufe erklären? Er kennt doch die Behörde, die eine Zweitschrift beglaubigt. Ebenso dürfte der Hinweis zum Verwendungszweck des für ungültig erklärten Duplikats unnötig sein. Mit diesem Wissen im Kopf kombinieren wir jetzt das achte Stilgebot mit der Stilregel Nr. 4. Wir hatten ja gelernt, ein Satz sollte möglichst nicht mehr als 14 Wörter lang sein. Also fassen wir uns kurz:

Wir möchten die beglaubigte Kopie für nichtig erklären lassen. Bitte schicken Sie uns dafür das Formular für den Antrag.

Jetzt sind aus elf Substantiven drei geworden und aus den anfangs 29 Wörtern gerade noch 19. Der längste Satz umfasst zehn Wörter. Ist das nicht viel verständlicher? Vergleichen Sie einmal folgende typische Formulierungen aus dem Amtsdeutschen mit ihren Varianten aus der Umgangssprache:

Kanzleistil:

Umgangssprachlich:

Wie löst man die Verknotungen in den Gehirnwindungen, die jahrelanges Amtsdeutsch verursacht hat? Dazu kommen wir jetzt.

Verbal- oder Zeitwortstil

Umgangsdeutsch beginnt im Kopf. Um die Satzverfettung durch Hauptwörter einzudämmen, müssen Sie deshalb Ihr Denken »umprogrammieren«. Entwirren Sie die Knoten in Ihren Gehirnwindungen, indem Sie täglich schlanke Sätze üben. Folgen Sie beim Texten und Sprechen der Leitlinie:

Ich benutze in jedem Satz
nur so viele Hauptwörter wie unbedingt nötig.

Oft zeigen Sprichwörter, wie klar und einfach man etwas ausdrücken kann. Kennen Sie folgendes Sprichwort?

Das Ausheben von Erdvertiefungen zum Zwecke der Schädigung Dritter birgt das Risiko einer Selbstschädigung.

So würde es vermutlich in einer behördlichen Anordnung stehen. Der Volksmund drückt sich klarer aus:

Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.

Genau genommen handelt es sich um ein Bibelzitat aus Sprüche 27:26. Martin Luther hat es gemäß seiner Übersetzung von 1545 so ausgedrückt:

Wer eine Grube macht, der wird dreinfallen.

Was fällt Ihnen hinsichtlich der Hauptwörter auf? Im ersten Beispiel haben wir sieben Hauptwörter. In den beiden anderen nur jeweils eines. Sind diese zwei Varianten nicht viel verständlicher?

Vermeidbare Hauptwörter blähen Sätze auf und machen sie schwerfällig. Das liegt nicht nur an den Substantiven, sondern auch an dem sinngebenden »Füllstoff«, den die grammatischen Regeln verlangen. Gewöhnlich braucht man Verben, um einen korrekten und verständlichen Satz zu bilden. Viele dieser Zeitwörter sind nur »Streckverben«, farblose Hilfskonstruktionen. Da texten wir dann, dass eine »Antragstellung erfolgt«, obwohl das Verb »beantragen« vollauf genügen würde. Ebenso brauchen wir kein »Verbot« zu »erlassen«, wenn sich etwas auch sclicht »verbieten« lässt.

Statt Ihre Texte mit fadem Beiwerk zu strecken, sollten Sie sie lieber durch Kürzen würzen. Stellen Sie sich vor, Julius Cäsar hätte ausgerufen:

Nach erfolgter Auskunft und Besichtigung der Verhältnisse war mir die Erringung des Sieges möglich.

Ob er damit in die Geschichte eingegangen wäre? Stattdessen sagte er: »Veni, vedi, vici.« Oder auf Deutsch:

Ich kam, ich sah, ich siegte.

Sprachwissenschaftler bezeichnen die erste Variante als nominalen oder Hauptwortstil und die zweite als verbalen oder Zeitwortstil. Tätigkeitswörter (Verben) sind meist die erste Wahl, um eine Handlung zu beschreiben. Damit will ich nicht sagen, Sie sollten überhaupt keine Hauptwörter mehr benutzen. Das hat auch Cäsar nicht getan. Es geht mir darum, Sie für überflüssige Hauptwörter zu sensibilisieren. Widerstehen Sie dem Drang, eine Handlung in Substantive hineinzuzwängen. Sie müssen nicht texten:

Die Vorschriften über Zahlungsverzug finden mit der Überschreitung der Fälligkeit Anwendung.

Wenn Sie damit nicht zu Ihrem Geld kommen, liegt es vielleicht an dem Text. Schreiben Sie besser:

Bitte zahlen Sie bis zur Fälligkeit, um Verzugszinsen zu vermeiden.

Wortketten

Ein anderer krankhafter Auswuchs der Hauptwörterei sind Wortketten wie in dem oben zitierten Liedvers von Reinhard Mey. Hier ein Beispiel:

Gegen die Ablehnung der Zulassung zur Eintragung oder gegen die Versagung eines Antragsscheins ist Einspruch in Schriftform statthaft.

Alles klar? In diesem Satz beschreiben Hauptwörter sämtliche Tätigkeiten. Aktiver und wohl auch verständlicher wäre folgende Form:

Falls Sie keinen Antragsschein erhalten oder das Amt den Eintrag ablehnt, können Sie schriftlich widersprechen.

Was ist im zweiten Beispiel anders? Statt mehrere Hauptwörter zusammenzuleimen, haben wir hier die unbedingt notwendigen Substantive durch selbständige Verben »aktiviert« – der Satz ist leichter lesbar und damit verständlicher.

Woran erkennt man Hauptwörter, die eine Handlung ausdrücken? In vielen Fällen enden sie auf die Silbe -ung wie in Außerachtlassung, Bezuschussung, Durchführung, Einbringung, Inkraftsetzung … Eleganter texten Sie mit Verben: übersehen/ignorieren, fördern/zuzahlen/bezuschussen, durchführen, einbringen, in Kraft setzen …

Hauptwörter aus dem Infinitiv – gut oder schlecht?

Vielleicht denken Sie jetzt: »Na gut, wenn ich nicht schreiben darf ›Die Substantivierung von Verben ist unerwünscht.‹, dann formuliere ich eben: ›Das Substantivieren von Verben ist unerwünscht.‹«

Was ist hier passiert? Wir haben das böse Ung-Wort durch die großgeschriebene Grundform des Verbs ersetzt. Auch diese Infinitiv-Form ist sozusagen ein künstliches Hauptwort. Diesen Trick können Sie auf jedes Tätigkeitswort anwenden. Und oft ist das stilistisch auch nicht unelegant.

»Das Gehen fällt mir in letzter Zeit so schwer«, klagt vielleicht die Oma. Wäre es besser, zu sagen: »In letzter Zeit fällt es mir so schwer, zu gehen.«? Sprechen so Damen der reiferen Jahrgänge? Manche vielleicht schon. Die meisten würden eher sagen: »Das Schwimmen hält mich jung.«

Um Infinitive stilsicher in Hauptwörter zu kleiden, bedarf es Fingerspitzengefühl. Überlegen Sie, ob ein Satz mit richtigen Zeitwörtern nicht klarer und dynamischer klingt.

Hauptwörter aus Adjektiven – auch nicht viel besser?

Eine andere Endung bei Hauptwörtern, die Ihnen verdächtig vorkommen sollte, ist »-keit«. Dahinter stecken oft Eigenschaften, die sich besser mit dem Original beschreiben lassen: mit Adjektiven. Texter und Sprecher, die an der Hauptwörterei erkrankt sind, haben das feine Gespür für diesen vitalisierenden Unterschied verloren. Bei ihnen mutiert dann zur »Gewöhnlichkeit«, was vorher »gewöhnlich« war. Sie beschwören die »Achtsamkeit«, obwohl es völlig genügen würde, »achtsam« zu sein.

Wie schon bei den substantivierten Verben gilt auch für die »verhauptworteten« Eigenschaftswörter: Keine Regel ohne Ausnahme. Der Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins sollte seinen Titel behalten dürfen. Er wäre womöglich nie verfilmt worden, hätte Milan Kundera ihn Das unerträglich leichte Sein genannt.

Sprachliche Flatulenzen

Es gibt eine Kategorie von Substantiven ohne Mark und Knochen, die einen Satz aufblähen, so als hätte man ihn mit zu viel Kohl gefüttert. Diese sprachliche Flatulenz entsteht, wenn Sie ein Hauptwort mit Begriffen wie »Bereich«, »Gebiet« oder »Rahmen« umrahmen. Hier eine Schwarze Liste von acht solcher Substantive. Ich habe sie fett markiert und sie weiter unten stilistisch verschlankt:

Mit Rahmenkonstruktion:

Ohne Rahmenkonstruktion:

Sicher finden Sie noch weitere solcher Hilfsnomen, die Sie Ihrer persönlichen Schwarzen Liste hinzufügen können. Um sich vor sprachlicher Flatulenz zu schützen, überlegen Sie es sich bitte stets dreimal, ob und wo Sie diese Hauptwörter verwenden.

Geständnis eines Werbetexters

Ich muss gestehen, selbst ich, ein Schriftsteller und Texter, ertappe mich öfter mal bei der Hauptwörterei. Das räume ich nicht deshalb so offen ein, um Ihnen den Mut zu rauben. Ich sage das nur, um Sie auf eine andere Regel guten Textes hinzuweisen: das Korrekturlesen.

Lesen Sie jeden Text, der für andere bestimmt ist, mit genügend großem zeitlichen Abstand mindestens ein zweites Mal.

Von dieser Korrekturpflicht gibt es keine Ausnahme. Vor allem, wenn beim Schreiben Ihre Gefühle schäumen, ist diese zweite Schleife wichtig. Fast immer wird sie Ihnen den Hals retten. Meistens bewahrt Sie das nochmalige Durchlesen vor peinlichen Flüchtigkeitsfehlern.

Warum betone ich den »genügend großen zeitlichen Abstand«? Weil die meisten Autoren unmittelbar nach der Niederschrift ihrer Gedanken noch zu tief in dem Text drinstecken. Da kann das Gehirn spielend ganze Wörter in den Text hineinschummeln, obwohl sie tatsächlich fehlen. Auch das ist mir mehr als einmal passiert. Je mehr Zeit indes zwischen dem Aufschreiben und dem Durchlesen liegt, desto mehr Distanz haben Sie zum eigenen Text.

Manche schaffen es, nach einer Woche schon den Blickwinkel eines Erstlesers einzunehmen. Diese »Reifezeit« mag bei der täglichen Korrespondenz oder für aktuelle Postings in sozialen Netzen fehlen. Aber wenn Sie wichtige Werbetexte schreiben oder gar ein Buch, dann sollten auf diese neutrale Sicht keinesfalls verzichten. Noch besser ist es, den Text zusätzlich einer ehrlichen Person Ihres Vertrauens vorzulegen.

Fazit

Hauptwörter sind die Fixsterne am Himmel einer lebendigen Sprache: Ohne sie könnten wir uns schwer orientieren. Echte Hauptwörter besitzen mitunter eine enorme Strahlkraft. Das trifft vor allem auf kurze, archaische Wörter zu wie »Liebe« »Hass« oder »Glück«. Lassen Sie sich davon aber nicht zur Hauptwörterei verleiten. Ebenso wie der eng damit einhergehende Kanzleistil machen zu viele Substantive einen Text schwerfällig und oft auch schwer verständlich. Verwenden Sie so wenige Wörter mit der Endsilbe »-ung« wie möglich. Gehen Sie sparsam mit substantivierten Infinitiven um.

Und jetzt sind Sie an der Reihe. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Texten.

9. Stilgebot

Beitrag zuletzt aktualisiert am 22. Oktober 2020.